Alle Jahre Anfang Dezember gingen die Todtmooser „Lebchuechewiiber“* mit voll beladenen Körben und Rückentragen bei Wind und Wetter zu Fuß über die Berge in die umliegenden Täler und läuteten damit die Weihnachtszeit ein. Jedes Lebkuchenweiblein hatte seine eigene Kundschaft. So klopfte Jahr für Jahr eine sehnsüchtig erwartete, alte Bekannte an die Türen.
Der Duft, der dann in den Stuben zurückblieb, weckte in den Kindern die Vorfreude auf den Weihnachtsmorgen. Da fanden sie beim Aufwachen dieses herrlich von Honig und kostbaren Gewürzen beseelte, weithin bekannte Wallfahrtsgebäck auf ihrer Bettdecke liegend vor. In ärmlichen Gegenden des Schwarzwalds waren diese Lebkuchen oftmals das einzige Weihnachtsgeschenk. Süßes gab es das Jahr über kaum. Deshalb umgab der Besuch der alten, einfachen Frauen immer etwas Besonderes. Sie kamen immer aus Todtmoos. Denn in diesem jahrhundertealten Marienwallfahrtsort werden seit undenklichen Zeiten nach einem geheimen Rezept die wunderbarsten Lebkuchen hergestellt. Die echten Todtmooser Lebkuchen sind größer als gewöhnlich und von rechteckiger Form. Sie sind nicht zu süß, schön braun gebrannt, mit glänzender Oberfläche, und haben als bescheidene Zier eine halbe geschälte Mandel in der Mitte.
Den Sommer über verkauften diese Lebkuchenhändlerinnen ihre süße Ware, die sie zuvor beim Bäcker angekauft hatten, neben Rosenkränzen, Weihwassergefäßen und allerlei Krimskrams an den Krämerständen, die einst den Weg zur Wallfahrtskirche hinauf säumten.
In frühen Jahren, als es noch keine Bäcker in Todtmoos gab, stellten diese einfachen Frauen ihre Lebkuchen in ihren Bauernöfen nach selbst her. Weil seinerzeit kostbare Mandeln nicht verfügbar waren, verzierten sie diese Lebkuchen noch mit einer Haselnuss. In einer alten Zeitungsannonce unbekannten Datums empfahl Wendelinus Hubers Frau „selbst gebackene Honig-Lebkuchen“, die weithin berühmt und zu 10 und 20 Pfennigen bis zu einer Mark per Stück zu erhalten seien.
Heidi Knoblichs Recherche für eine Radiosendung (SWR), eine Hommage an den in ihren Kindheitserinnerungen verwurzelten Todtmooser Lebkuchen, führten sie nach Todtnau. Hier stieß sie auf ein Kalenderblatt des 1917 in Todtnau geborenen Schriftstellers und Radiojournalisten Otto Heinrich Klingele aus dem Jahr 1963, mit dem er an eine Todtmooser Lebkuchenhändlerin erinnerte. Diese Erinnerungen haben sie dazu inspiriert, ihr Weihnachtskinderbuch „Alle warten auf das Lebkuchenweiblein“ zu schreiben:
Ich weiß nicht mehr, wie die Alte geheißen hat. Wenn ich zurückschaue in die Erinnerung, dann sehe ich nur noch, wie die Schneeflocken wirbeln, und das Lebkuchenwiilble kommt ins warme Haus. Der Schnee hängt an ihrem Kleiderzeug, und ich starre sie an mit großen Bubenaugen. Es bringt meiner Mutter seine Ware aus Todtmoos und trinkt hernach in der warmen Stube das Schüssele Kaffee. Und es schenkt uns Kindern noch einen Lebkuchen als Dreingabe, gebacken zu Todtmoos nach Geheimrezepten. Ich habe den süßen Geschmack nach Honig und anderen Herrlichkeiten wieder auf der Zunge – ein Geschmack, der sich mit Worten – und mögen sie auch noch so wohlgesetzt sein – nicht beschreiben lässt.
Dieses Lebkuchenweiblein in seinem „groben Rockzeug“, mit seiner rot gefrorenen Nase und seinem runzligen Gesicht unter dem Kopftuch war für Klingele eine der geheimnisvollsten Gestalten seines Lebens. Es kam einfach durch den Schneeflockenwirbel aus dem tiefen, dunklen Wald, „aus einer Tiefe, wo nicht einmal mehr Füchse und Hasen hinkommen konnten“. Und wie es gekommen war, verschwand es wieder in den tanzenden Schneeflocken in den Wald.
*Die Bezeichnung „Weib“ (in der alemannischen Sprache „Wiib“) wurde früher in einem anderen Sinn als heute benutzt. „Weib“ stand damals für eine umtriebige, tüchtige Frau bzw. eine Ehefrau (siehe Englisch: wife). Meist waren die Frauen seinerzeit kleiner als heute. In der verniedlichen Art der alemannischen Sprache nannte man sie liebevoll „Wiibli“.